Wie Phönix aus der Asche …

Zum 250. Geburtstag von Carl Friedrich Bernhard

von Jörn Richter

Carl Friedrich Bernhard war gerade einmal 27 Jahre alt, als er am 6. November 1798 von Kurfürst Friedrich August III. (1750-1827) zusammen mit seinem Kompagnon, dem in der Chemnitzer Oberschicht gut vernetzten Kaufmann, Johann August von Bugenhagen, ein Privilegium exclusivum erhielt. Dieses beinhaltete das Recht, in Harthau (heute Seniorenresidenz „Manufaktur Bernhard“) eine komplette Maschinenspinnerei nach englischem Vorbild zu errichten. Weiterhin sollte es die Betreiber für die nächsten zehn Jahre vor Nachahmungen schützen, damit sich die wahnsinnig hohen Investitionen amortisieren konnten. Dieses Privilegium exclusivum verkörperte die Geburtsurkunde für die fabrikmäßig betriebene Baumwollmaschinenspinnerei und eröffnete den Weg für die industrielle Revolution in Sachsen.

Innenhof Bernhardsche Spinnerei, um 1840

Was war dem wirtschaftlich vorausgegangen? Seit dem Chemnitzer Bleichprivileg von 1357 entwickelten sich in und um Chemnitz die Herstellung und der Handel von Textilien. Im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts avancierte Chemnitz zum Zentrum der sächsischen Baumwollproduktion. In Chemnitz existierten um 1800 allein elf Baumwollhandlungen, darunter auch jene des besagten J. A. von Bugenhagen. Unter den 10.000 Einwohnern gab es 1.626 Webermeister und 112 Strumpfwirker. Chemnitz lebte von der Weberei. Der große „Garnhunger“ am Ende des 18. Jahrhunderts aktivierte viele Webermeister und Maschinenbauer sowie den kurfürstlichen Hof in Dresden das dringend benötigte feine Garn durch mechanisch betriebene Spinnmaschinen, wie es sie schon in England gab, herzustellen. Dazu hatte man auf Veranlassung der „Landesökonomie-, Manufaktur- und Commerzien-Deputation“ (das damalige Wirtschaftsministerium) seit Ende der 1780er Jahre europaweit Ausschau gehalten, die sächsischen Maschinenbauer und Weber mit Prämien gefördert und sogar Fachleute nach England gesandt, um dort – wir würden heute sagen¬ – Industriespionage zu betreiben. Mit der Weberei Geld zu verdienen und der sogenannte „Garnhunger“ waren die wichtigsten Triebkräfte für die revolutionierende Umgestaltung von der hand- zur maschinenbetriebenen Spinnmaschine - von der Manufaktur zum Fabriksystem. In diesem Kontext kam um 1796 erstmalig Carl Friedrich Bernhard wie gerufen nach Chemnitz. Er stieg auf wie Phönix aus der Asche und war nach einem reichlichen Jahrzehnt wieder aus der Stadt verschwunden.

Geburtsurkunde von Carl Friedrich Bernhard

Carl Friedrich Bernhard wurde am 25. August 1771 in Grünstadt (Rheinpfalz), vor genau 250 Jahren, als Sohn des dortigen gräflichen Hofgärtners Heinrich Jakob Bernhard (1728-1807) geboren. Die Eintragung „Fried(e)rich“ in der Geburtsurkunde ist etwas irreführend, in der Literatur wird sein Vorname durchweg mit Friedrich geführt. Sein Vater avancierte bald unter den Leininger Grafen zum Kammerrat sowie Landamtmann. Er war also ein höherer Beamter für Wirtschafts-, Rechnungs- und Gerichtsfragen. Überhaupt waren die Bernhards kein unbeschriebenes Blatt. Die Vorfahren standen bereits seit mindestens Anfang des 18. Jahrhunderts in leiningen-westerburgischen Diensten und gehörten der vermögenden Oberschicht an. Hieraus ergibt sich auch die Verbindung zu Carl Friedrichs Taufpaten, die ja oft das persönliche Umfeld der Eltern widerspiegelten. Einer war Graf Carl zu Leiningen-Westerburg (1757-1811) und ein zweiter dessen Bruder Graf Christan I. zu Leiningen-Westerburg (1761-1839).

Doch ebenfalls der dritte Taufpate, Ludwig Friedrich von Reineck (1707-1775) „zu Franckfurth benebst deßen jüngstes Fräulein Tochter“, ist eine kleine Sensation. In welcher Verbindung der schwerreiche Frankfurter Weinhändler, Blumenliebhaber und „Königlich Schwedische und Polnische, Kurfürstlich Sächsische Geheime Hof- und Kriegsrat“ zu den Bernhards in die Pfälzer Weinstadt stand, lässt Raum für viel Spekulationen. Ergänzend dazu hatte der junge Goethe dem vergrämten alten Melancholiker von Reineck in seinem Werk „Dichtung und Wahrheit“ (I,4) ein – wenn auch zweifelhaftes – literarisches Denkmal gesetzt.

Innenhof Bernhardsche Spinnerei, 2021

Mit diesen hochangesehenen Taufpaten hatte Carl Friedrich Bernhard ein nachhaltiges Fundament. Er erhielt sicher im 1752 in Grünstadt gegründeten Gymnasium eine solide Ausbildung. Nach Kindheit und Jugend war er ab 1791 in Manchester tätig. Zusammen mit seinem neun Jahre älteren Bruder Ludwig Carl Philipp Bernhard (1762-1810) und wahrscheinlich noch weiteren Familienangehörigen betrieben sie in Manchester nicht nur eine Baumwollhandlung – sondern und das war seine besondere Empfehlung nach Sachsen – eine Baumwollmaschinenspinnerei. Gleichfalls waren die Bernhards seit den 1790er Jahren auch auf den Leipziger Messen vertreten. Carl Friedrich Bernhard bemerkte im Gesuch zur Erteilung des Privilegiums exclusivum, dass sie „seit einigen Jahren nach Sachsen mehrere Millionen Pfund Garn geliefert“ hatten und seit 1796 in Leipzig über eine ständige Niederlassung verfügten. Bernhard hatte also alles und noch viel mehr in der Tasche, wonach sich die Chemnitzer Textilindustrie damals sehnte. Er versprach mit einer Baumwollmaschinenspinnerei den „Garnhunger“ der Weber zu bändigen. Der Plan Bernhards wurde von ihn vorab groß gedacht und für Chemnitz genial umgesetzt, er war der Ausgangspunkt für Chemnitz als das zukünftige „Sächsische Manchester“.

In Chemnitz knüpfte Bernhard einen ausgezeichneten Draht zum für die Ämter Chemnitz und Frankenberg zuständigen kurfürstlichen Justizamtmann Johann Friedrich Carl Dürisch (1753-1818). Dieser war nicht nur der wichtigste Förderer der wirtschaftlichen Entwick¬lung von Chemnitz am Dresdner Hof, sondern er besorgte auch von dort notwendige Staatskredite.

Gedenkstein von Heinrich Jakob Bernhard (Alter Friedhof Harthau)

Bereits um 1797, also ein Jahr vor dem Privilegium exclusivum, kaufte Carl Friedrich Bernhard vorausschauend für 400 Taler vom Gutsbesitzer Gottfried Bonitz im oberen Harthau ein Wiesen- und Gartengrundstück nebst Mühlenwehr. Alles lief weitgehend unter strengster Geheimhaltung ab, denn wären Bernhards Pläne in England bekannt geworden, hätte die Gefahr eines englischen Embargos aller noch von Bernhard zu beschaffenden „Utensilien, Gerätschaften und Modelle“ für die künftige Fabrik bestanden.  

1799 konnte Bernhard den Baumeister und Architekten Johann Traugott Lohse (1760-1836) beauftragen, das heute noch erhaltene viergeschossige Haupt- bzw. Spinnmühlen-Gebäude (im Bild Nr. 1) zu errichten. Es war 1800 fertig gestellt und kostete die Wahnsinnssumme von ca. 30.000 Talern, mehr als damals ein Kirchenneubau. Zirka ein Viertel des Geldes wurden nur für den Ausbau des Mühlengrabens verwendet. Das außenliegende, im Durchmesser ca. 6,5 Meter große, an der Klaffenbacher Straße befindliche, Mühlenrad hatte eine Leistung von ca. 25 PS. Es lieferte noch Jahrzehnte später – selbst nach der Erfindung der Dampfmaschine – nachhaltig der Fabrik die Antriebsenergie. Im Jahr 1804 konnte ein zweiter dreigeschossiger Erweiterungsbau fertig gestellt werden (im Bild Nr. 2). 1807 schließlich errichtete Lohse das heute uns so beindruckende, repräsentative klassizistische Herren- bzw. Kontorhaus (im Bild Nr. 3) mit seinen vier dorischen Halbsäulen auf der Gartenseite. Diese Bernhardsche Fabrik galt für alle nach 1810 folgenden vielen Spinnereien als das Vorbild.

Die Maschinen ließ Bernhard aus England liefern. Weiterhin verpflichtete Bernhard die ersten Jahre den Chemnitzer Maschinenbauer Carl Gottlieb Irmscher (1763-1829) und zwei englische Mechaniker als Werkmeister. Doch die technische Vollendung erhielt die Bernhardsche Fabrik durch den englischen Mechaniker Evan Evans (1765-1844). Ihn warb C. F. Bernhard 1802 aus Manchester ab. Evan Evens gilt als „der erste Lehrer von Baumwollspinnereifachleuten in Sachsen“. Zwischen 1802 und 1812 stattete er im Chemnitzer Raum zehn weitere Fabriken mit dem Maschinensystem der Spinning-Mule aus und ab 1812 betrieb er in Siebenhöfen bei Geyer seine eigene Spinnerei.

Bernhards Plan ging auf. Nach anfänglich 620 Spindeln im Jahre 1800 wurde bereits 1812 eine Steigerung der Gesamtkapazität auf fast 20.000 Feinspindeln verzeichnet. Bereits 1804 konnte die Commerzien-Deputation feststellen: „Ohne Zweifel sei diese (Bernhardsche) Maschinenspinnerei jetzt für die vollkommenste in Deutschland und zugleich für diejenige zu erachten, die sich unter allen bekannten Spinnmühlen außerhalb Englands am besten rentiere.“

Ludwig Bernhard (1762-1810)

Besonders Napoleons Kontinentalsperre ab 1807, die u. a. den Import billiger englischer Garne nach Europa verhinderte, begünstigte die weitere Expansion der Bernhards in Harthau. Schließlich konnten die Bernhards in Harthau um 1810 noch die Mittelmühle erwerben und 1811 eine dritte Fabrik auf dem unteren Harthauer Mühlengrundstück – heute, Seniorenzentrum Stocker Klaffenbacher Str. 2 – errichten.

Doch so einfach wie beschrieben, war diese Entwicklung nun doch nicht. Die Gesellschafter in der Spinnerei wechselten anfangs ständig. Bereits 1800 verzichtete von Bugenhagen hinsichtlich des ihm mit erteiltem Privileg und überließ es allein Carl Friedrich Bernhard. Kurze Zeit war der Leipziger Handelsherr Andreas Christian Friedrich Köhler Mitinhaber der Spinnerei. Von 1801 bis 1810 teilte sich Bernhard mit seinem Bruder Ludwig Carl Phillip Bernhard zu gleichen Teilen Besitz und Leitung der Fabrik.

Auch wenn die englische Konkurrenz vorerst fast ausgeschlossen blieb, „belebte“ stattdessen der einheimische Wettbewerb das Geschäft. So errichtete 1799 Graf Detlev Carl von Einsiedel in Wolkenburg eine Maschinenspinnerei für Schafwolle. Ähnlich Bernhard konnten sich die Kaufleute „Wöhler & Lange“ ein Privilegium exclusivum für Sachsen für eine Water-Twist-Spinnmühle sichern. Ihre Fabrik entstand 1799/1801 am Chemnitzfluss unterhalb des Schloßberges, wo sich heute noch an der Schönherrstraße das Areal des Webstuhlbaus befindet. Ebenfalls Johann Philipp Conrad Wöhler (1752-1825) bekam hohe Staatskredite und er holte sich gleich Bernhard einen englischen Mechaniker, Willam Whitfield, nach Chemnitz. Als Wöhler versuchte ähnlich der Bernhards zu produzieren, kam es zum Rechtsstreit zwischen beiden Unternehmen, der im Vergleich endete, aber den Bernhards weiterhin die Exklusivität ihrer Mulegarn-Herstellung sicherte.

Ein Grund für den besonderen Erfolg der Bernhards war sicher ihre breit aufgestellte Familie. Es waren sieben Brüder, die deutschland- und europaweit als Kaufleute agierten. Eine Schwester „war nach England verheiratet“. Grünstadt spielte im Leben der Bernhards ab den 1790er Jahren – wobei einer der Brüder noch dort in die Fußstapfen des Vaters trat – keine dominierende Rolle mehr. Das linksrheinische Gebiet mit Grünstadt ging im Gefolge der Französischen Revolution zeitweise im französischen Staat auf. So kam vielleicht auch Bernhards Vater Johann Jacob Bernhard nach Chemnitz, wo er 79jährig im Haus seiner Söhne verstarb. Sein sich ehemals im Park der Spinnerei befindlicher Gedenkstein steht heute auf einem rekonstruierten Sockel auf dem Friedhof der alten Harthauer Kirche.

Evan Evans (1765-1844)

Carl Friedrich Bernhard war der gefragte Erbauer von Maschinenspinnereien. 1800 lehnte er noch ein Angebot aus Österreich ab, in Wien eine solche zu errichten. Seit 1805 warb der preußische Hof um ihn, um in Berlin-Charlottenburg ebenfalls eine Maschinenspinnerei zu übernehmen. 1809 war er schon fest in Berlin tätig. Im Frühjahr 1810 verkaufte er seine Hälfte der Harthauer „Spinnmaschinen-Anstalt mit dem dabei befindlichen Halbhufengute und allem Inventar“ für 20.000 Taler an seinen Bruder Ludwig Carl Philipp Bernhard. 1812 nutzte Carl Friedrich in seiner Berliner Spinnerei bereits eine erste Dampfmaschine zum Antrieb. 1816 gab Carl Friedrich Bernhard zusammen mit seinem Chemnitzer Geschäftspartner Christian Friedrich Leopold Kröhne im „Chemnitzer Anzeiger“ die Erfindung einer mechanischen Antriebskraft für Spinnereien bekannt. Danach verlieren sich die Spuren von Carl Friedrich Bernhard. Sein Sterbejahr und -ort sind nicht belegt.  Hier bedarf es weiterer Forschungen.

Die Geschichte der Bernhardschen Spinnerei in Harthau nach 1810 mit ihren Höhen und Tiefen lässt sich noch Jahrzehnte über andere Bernhardsche Brüder sowie später über die großen Chemnitzer Unternehmer Wieck, Haubold, Solbrig u. a. weiterverfolgen.

Doch abschließend darf nicht unerwähnt bleiben, welches überregionale Interesse die Bernhardsche Spinnerei damals hatte. Bereits Anfang der 1800er erließ besagter Justizamtmann Dürisch für Fremde ein Verbot zur Besichtigung der Chemnitzer Spinnfabriken, um die darin befindlichen Maschinen vor dem Nachbau zu schützen. Doch kein geringerer als der große Dichterfürst und Weimarer Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe ließ es sich nicht nehmen, Chemnitz inkognito am 28. September 1810 zu besuchen. Sein Grund: Er wollte die Bernhardsche Spinnerei besichtigen, wobei ihn ganz offiziell der inzwischen zum Hofrat beförderte Dürisch begleitete. Ob Goethe eventuell über den Frankfurter von Reineck oder andere Bekanntschaften die Bernhards bereits kannte, muss die Goethe-Forschung klären. Doch in Harthau sah Goethe das neue Zeitalter mit eigenen Augen. In seinem späteren Roman „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ stellte er mit Weitsicht fest: „Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.“



Buchtipp:

Richter Gert (Hrsg.):  Zur Gründung der ersten Baumwollmaschinenspinnerei in Sachsen. Beiträge und Dokumente, Verlag Heimatland Sachsen 1999, 14,95 Euro






 
E-Mail
Anruf