Zur Gründung der Chemnitzer Freien Presse vor 150 Jahren (2.1.1871)
von Jörn Richter
In den Januartagen vor 150 Jahren vollzog sich unter preußischer Führung die Gründung des Deutschen Kaiserreiches. Zu diesem nationalen gab es in Chemnitz ein bis heute nachwirkendes, regionales Ereignis. Am 2. Januar 1871, an einem Montag, erschien zum ersten Mal die „Chemnitzer Freie Presse“. Als Tageszeitung setzte sie sich das proletarische Motto: „Ohne Gleichheit keine Gerechtigkeit; ohne Selbstregierung keine Freiheit; unerbittlicher Kampf den Ueberresten des Mittelalters“.
Chemnitz als die sächsische Industriemetropole bzw. das sächsische Manchester war damals ein bedeutendes Zentrum der Arbeiterbewegung. Das Projekt einer Arbeitertageszeitung kursierte so schon seit Mitte der 1860er Jahre in der Arbeiterschaft, aber es fehlte dafür sowohl das Personal als auch das Wissen, um eine solche Zeitung zu führen.
Leider sind uns heute nur wenige Exemplare der Zeitung dieser Jahre überliefert. Dafür hat Ernst Heilmann (1881-1940) mit seiner 1912 herausgegeben Geschichte der Chemnitzer Arbeiterbewegung eine faktenreiche Chronik hinterlassen, welche diese Entwicklung umfangreich beschreibt. Sie wurde u. a. durch die Chemnitzer Archivare Dr. Rudolph Strauß (1904-1987) und Dr. Ernst Hofmann (1944-2019) vervollständigt.
Um die Zeitung ins Leben zu rufen, gründete Ende 1870 der etwa 34jährige Fabrikschlosser Carl Gustav Schubert mit anderen Arbeitern einen Zeitungsverein. Dieser brachte 30 Thaler für eine Anschubfinanzierung auf, und fungierte ebenfalls als Herausgeber. Unter Vermittlung von Wilhelm Liebknecht wurde der Sozialist und Schriftsteller Bernhard Becker (1826-1882) nach Chemnitz als Redakteur geholt. Bis Mitte April 1871 konnte die Zeitung in einer privaten Buchdruckerei hergestellt werden. Dann war das Geld alle und auch der vom Buchdrucker gewährte Kredit längst verbraucht. Doch man machte aus der Not eine Tugend und gründete zeitnah eine eigene Genossenschaftsbuchdruckerei. Der Zeitungsverein beschaffte u. a. mit Hilfe von Wilhelm Liebknecht und August Bebel 700 Thaler, kaufte eine Handpresse und richtete in einem ehemals als Pferdestall genutzten Hintergebäude in der Zschopauer Straße 2 die erste Druckerei ein. Ab Mitte Mai 1871 konnte die Chemnitzer Freie Presse wieder regelmäßig erscheinen. Doch mit etwa 200 Abonnenten blieb die Auflage weit hinter den Erwartungen zurück. Des Weiteren führte die Zusammenarbeit zwischen dem Zeitungsverein und ihrem Redakteur Becker zu Konflikten, so dass Becker Mitte 1871 die Stadt wieder verließ.
„Das Blatt herumreißen“ konnte im wahrsten Sinn des Wortes dann der gelernte Buchbinder Johann Most (1846-1906). Er kam im Juni 1871 als glühender sozialdemokratischer Redner zu einer Protestkundgebung nach Chemnitz. Ihm wurde daraufhin angeboten die Redaktion der Zeitung zu übernehmen. Er war - obwohl noch sehr jung - schon ein Volkstribun mit der ihm eigenen derb-volkstümlichen Ausdrucksweise. Mosts Art zu reden und zu schreiben fand unter den Chemnitzer Arbeitern großen Anklang. Innerhalb kurzer Zeit stiegen die Abonnentenzahlen auf 1200. Die damalige Geschäftsstelle der Freien Presse befand sich übrigens im Parterre des Hauses Lindenstraße 5. Die Lindenstraße gibt es nicht mehr. Das Haus stand ungefähr dort, an der heutigen Waisenstraße, wo sie den 8-geschossigen Wohnblock „Straße der Nationen 34“ kreuzt, also keine Minute von der heutigen FP-Geschäftsstelle an der Brückenstraße entfernt.
Als im Oktober/November 1871 in Chemnitz 8000 Arbeiter für den 10 Stunden-Arbeitstag streikten, wurde dies maßgeblich durch Most mit der Freien Presse befeuert und begleitet, u.a. machte er am 13. November 1871 den bereits vom Streik geschwächten und schwankenden Arbeitern neuen Mut: „Die Unterstützungen (von außerhalb d. A.) fließen mit jedem Tag reichlicher. Bis heute Früh trafen cirka 2800 Thaler ein. Größere Summen folgen.“
In der eigenen Druckerei konnten nun auch weitere Veröffentlichungen über die Tageszeitung hinaus erscheinen. So rief Most die Satirebeilage „Der Nußknacker“ ins Leben, und ein von Most verlegtes proletarisches Liederbuch wurde über mehrere Auflagen schnell zum Bestseller. Viele weitere Druckerzeugnisse konnten teilweise von Chemnitz aus nun deutschlandweit erscheinen.
Wenn Most mit seinen Veröffentlichungen in kurzer Zeit einerseits die Sympathien der Arbeiterschaft bekam, so mangelte es andererseits nicht an der Gegenreaktion des Staates. Die Justiz verfolgte ihn mit Geldstrafen, Beleidigungsklagen bis hin zur Majestätsbeleidigung. Im Juni 1872 waren Geldstrafen in Höhe von 120 Talern fällig geworden. Eine Sammlung unter den Chemnitzer Arbeitern erbrachte zwar diese Summe, jedoch befand sich die Zeitung „gerade stark in der Finanzklemme“. Most stellte das Geld deshalb der „Chemnitzer Freien Presse“ zur Verfügung und ließ die Geld- in eine Haftstrafe umwandeln, die er im Roten Turm absaß. Aber kaum entlassen erhielt er Schreibverbot, wurde wegen weiterer politischer Delikte steckbrieflich gesucht, Ende 1871 wieder inhaftiert und noch vor seiner Haftentlassung 1872 aus Chemnitz ausgewiesen.
Most ging daraufhin nach Mainz und übernahm dort die Redaktion der „Süddeutschen Volksstimme“. In Chemnitz hatte er in dem einen Jahr seines Wirkens einen so nachhaltigen Eindruck bei den Arbeitern hinterlassen, dass sie ihn 1874 und 1877 als ihren Abgeordneten - und als einen der jüngsten - in den Reichstag wählten.
Die Freie Presse wurde nach Most durch weitere bedeutende in die Geschichte eingegangene Redakteure wie Julius Vahlteich oder Max Kegel geleitet. Bis zum Jahre 1876 hatten schon 21 Redakteure gewechselt, die zusammengerechnet fast 10 Jahre Gefängnis verbüßen mussten. Doch der Zeitung tat das wohl wenig Schaden. Kurz vor ihrer erzwungenen Einstellung im Oktober 1878 hatte sie inzwischen eine Auflage von 3000 Exemplaren und warb mit einem neuen Druckformat nun auch schon für „die geehrten Geschäftskunden … zur Veröffentlichung von Annoncen“.
Nach dem Sozialistengesetz erblühte in Chemnitz die sozialdemokratische Lokalpresse neu. Sie firmierte unter den Titeln: „Die Presse“, „Der Beobachter“, „Die Volksstimme“. Ihre Chefredakteure wie Emil Rosenow, Gustav Noske und Ernst Heilmann waren meist ebenfalls die Chemnitzer Abgeordneten des Reichstages.
1945 erschien nach dem Verbot von 1933 wieder die Volksstimme. Da aber der Name „Volksstimme“ bereits in anderen DDR-Bezirken für SED-Zeitungen existierte, wurde 1963 auf Beschluss der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt die "Freie Presse" als neuer Name für ihr „Bezirksorgan“ eingeführt.
Anfang 1990 machte sich die Freie Presse vom ihrem bisherigen Herausgeber SED/PDS unabhängig und wurde zur Tageszeitung für die Region.
Um das Kapitel mit einem weiteren Jubiläum abzuschließen, sei daran erinnert, dass vor genau 30 Jahren, am 1. Januar 1991, mit der Gründung der Chemnitzer Verlag und Druck GmbH ein neues Kapitel in der Geschichte der Zeitung begann, welches sich bis heute erstreckt.