„Chemnitz war erschrecklich hoch angesehen bei unseren Feinden …“
von Jörn Richter
Am 17. März 1761 hatte Chemnitz höchsten königlichen Besuch. Friedrich II. von Preußen (1712-1786), bereiste unsere Stadt. Er kam von Leipzig in „einfacher Kutsche“ und stieg im Haus des Stadtrichters Dr. Packbusch ab. Am 18. März 1761 ritt er mit General von Linden die Zschopauer Straße hinaus, besichtigte die nach der Freiberger Straße gelegenen Felder und kehrte durchs Klostertor zurück. Auf dem Markt ließ er sechs seiner Bataillone im Parademarsch vorüberziehen. Am nächsten Tag verließ er Chemnitz, fuhr nach Lichtenwalde und reiste von da weiter nach Freiberg.
Wie kam die Stadt zu solcher Ehre?
Fünf Jahre früher, im August 1756, war Friedrich II. mit fast 70.000 Mann ohne Kriegserklärung von verschiedenen Seiten in Sachsen eingefallen. Damit begann der Siebenjährige Krieg (1756-1763) um die Vorherrschaft in Deutschland und Europa. Die Preußen kämpften gemeinsam mit Großbritannien und Hannover auf der einen und Österreich verbunden mit dem vorerst handstreichartig ausgeschalteten Sachsen sowie Frankreich, Russland und dem Heiligen Römischen Reich auf der anderen Seite.
Bereits am 4. September 1756 rückte Friedrichs Schwager Herzog Ferdinand von Braunschweig (1721-1792) mit seinem über 12.000 Soldaten zählenden Regiment in Chemnitz ein und nahm seine Wohnung im Siegertschen Haus. Dass sich Friedrich II. für dessen Schwester, seine Gemahlin Christine von Braunschweig (1715-1797), wenig interessierte, ist eine altbekannte Geschichte. Friedrich II. sah sie so auch während des Siebenjährigen Krieges nicht ein einziges Mal. Und als sich die Eheleute 1763 wieder trafen, richtete er nur einen, in die Annalen eingegangenen Satz an sie: „Madame sind korpulenter geworden“ und wandte sich wieder ab. Doch seine chauvinistische Ader ließ er nicht nur an seiner Ehefrau aus. Auch für die drei großen Widersacherinnen seines angezettelten Krieges, die österreichische Kaiserin Maria Theresia (1717-1780), die Mätresse des französischen Königs, Madame de Pompadour (1721-1764), und die russische Zarin Elisabeth (1709-1761) hatte er, so weltoffen und kunstsinnig als Monarch er sich gab, nur wenig ehrenvolle Worte. Er beschimpfte sie als „die drei Erzhuren Europas".
Chemnitz jedenfalls hatte seit dem Einfall der Preußen so viel Leid und Elend, wie seit dem 30-jährigen Krieg (1618-1648) nicht mehr zu ertragen. Sieben Jahre lang wurde die Stadt mit ihrem Umland zum Durchzugs-, Rückzugs- und Versorgungsgebiet von großen Regimentern.
Bereits 1264 wird um Chemnitz eine starke Stadtmauer erwähnt und auch ein Graben, der diese ringförmig umschloss. Vom sächsischen Herzog Georg (1471-1539) stammte der Ausspruch über seine Städte: „Leipzig sei ihm die Beste, Chemnitz die Feste, Freiberg die Größte und Annaberg die Liebste." Die Höhe der Stadtmauer betrug sechs Meter und ihre Stärke 1,5 Meter. Die Mauer war mit dicken Schieferplatten abgedeckt und umlaufend an ihrer Innenseite befand sich ein Wehrgang. Zahlreiche Schießscharten und 25 Türme dienten der Beobachtung und Verteidigung. Nach allen vier Himmelsrichtungen gab es Stadttore.
Aber Chemnitz hatte weder eine Garnison noch hätte sich die damals ca. 7.000 Einwohner zählende Stadt gegen die mit zehntausender Truppenstärke anrückenden Armeen verteidigen können. So blieb Chemnitz nichts weiter übrig als sich seinem Schicksal zu ergeben. Wie die Chroniken vermerken, war es auch ganz egal, ob die Truppen als Freund oder Feind vor den Toren standen. Keiner von ihnen hat die Stadt geschont. Doch allein die Preußen nutzen Chemnitz sechs Mal als Winterquartier. Die Versorgung der durchziehenden Truppen mit Lager und Proviant war dabei noch die am „leichtesten“ zu erfüllende Verpflichtung der Stadt.
Bereits am 5. September 1756 erließ Herzog Ferdinand folgende Order: Alle Steuern müssen ab sofort an Preußen abgeführt werden. Doch damit nicht genug. Bewährtes Mittel um die Kriegskassen zu füllen, waren die „Brandschatzungen“, d. h. Zwangserhebung von Geldabgaben unter Androhung des Niederbrennens oder von Plünderungen. Die erste derartige preußische Zwangsabgabe in Höhe von 100.000 Talern, zahlbar in drei Monatsraten, erhielt Chemnitz Ende 1759. Noch ehe diese Forderung erfüllt war, verhängte Friedrich II. eine neue Zahlung von 250.000 Talern. Den gleich hohen Betrag von 250.000 Talern hatte die Stadt noch einmal im Sommer 1762 zu zahlen. Und Ende des Jahres 1762 sollten noch einmal 500.000 Taler bereitgestellt werden. Dem entging die ausgeblutete Stadt nur durch den Abschluss des Friedens von Hubertusburg im Februar 1763. Ein Chronist schreibt: „Chemnitz war erschrecklich hoch angesehen bei unseren Feinden, kein Ort in Sachsen, außer Leipzig, hat so viele Brandschatzungen geben dürfen als wir; Mittweida musste 6.000 Taler geben, Frankenberg 3.000, Augustusburg 3.000, Hohenstein 3.000… zahlen.“
Das Geld wurde zuerst von den vermögenden Chemnitzer Kaufleuten wie den Familien Treffurt, Siegert, Crusius, Neefe eingefordert. Als diese Oberschicht die letzten Außenstände Ende 1762 nicht mehr zahlen konnte, verlebten 200 der angesehensten Bürger das Weihnachtsfest in Haft. Wenn die Familienoberhäupter untergetaucht waren, wurden ihre Frauen als Geiseln in Gewahrsam genommen. Aber auch alle weniger bemittelten Chemnitzer mussten ständig preußische Kriegssteuern aufbringen. Wer keinen Besitz hatte, zahlte in der Höhe einer halben Jahresmiete. Ob Tagelöhner, Wollmacher oder Spinnerinnen – jeder musste einen Taler entrichten – das war damals mehr als ein Wochenlohn. Weiterhin verlegte der preußische Oberst von Billerbeck (1714-1790) ab Mitte 1762 sein berüchtigtes Kommando nach Chemnitz und schwadronierte durch die Region, um das eingeforderte Geld einzutreiben. Zu den weiteren zu erbringenden Leistungen der Stadt zählten in diesen Jahren die mit starken Unkosten verbundenen Lieferungen an Getreide, Hafer und Heu an die Truppen und das grausame Zusammentreiben junger Männer als Rekruten für die preußischen Regimenter.
Die Chronik berichtet, dass die Bereitstellung der Gelder nach den Besitzern der im „Weichbilde der Stadt gelegenen Häuser und Grundstücke“ erfolgte. Diesem Umstand verdanken wir wohl heute noch den „Grund-Riß des Weichbildes der Stadt Chemnitz“, gefertigt im August 1761 vom Geometer Johann Paul Trenckmann. Sein Vater und er waren Anfang bis Mitte des 18. Jahrhunderts ausgewiesene sächsische Hofkartographen. Auf der Grundlage des Trenckmannschen Planes und der Beschreibungen der Stadt durch den Chronisten Adam Daniel Richter (1709-1782) fertigte 1907 der Lehrer Karl Haustein das Bild „Chemnitz als Festung im Jahr 1750“ an. Dieses gehörte zumindest Anfang des letzten Jahrhunderts zum Standardwerk des Heimatkundeunterrichtes. Auf dieser Grundlage haben wir eine vage Vorstellung unserer mittelalterlichen Stadt, von der heute außer dem Alten Rathaus, dem Roten Turm und der Jakobikirche nichts mehr im inneren Stadtring existiert.