Von Chemnitz nach Lugansk
Wie Gustav Hartmann vor 125 Jahren in der südrussischen Steppe (heute Ukraine) eine der weltweit größten Lokomotivfabriken gründete
von Jörn Richter
Wenn wir heute über den Mythos Hartmann sprechen, dann haben wir meist Richard Hartmann (1809-1878), den sächsischen Lokomotiven-König, vor unseren Augen. Er war es natürlich, der als Wandergeselle aus dem Elsass kam, binnen kurzer Zeit seine Fabrik an der heutigen Hartmannstraße eröffnete und bereits 1848 – als Chemnitz noch nicht einmal über einen Eisenbahnanschluss verfügte – die erste Lokomotive gebaut hatte. Damit entstand die Legende vom einfachen Wandergesellen zum Millionär. Doch der heutige Hartmann Mythos beruht noch auf einer weiteren außergewöhnlichen Unternehmerpersönlichkeit, auf Richards Sohn Gustav Hartmann (1842-1910). Wenn Richard noch auf den Aufbau seines Werkes in Chemnitz fixiert war, blickte sein Sohn Gustav bereits weit über den Tellerrand des väterlichen Unternehmens hinaus. Seine ingenieur-technischen Fähigkeiten waren ihm in die Kinderwiege gelegt, seine Weltgewandtheit sowie Geschick schwierige Finanzierungsprobleme zu lösen, machten ihn zu einem weltweit agierenden Industriellen. So sanierte er, neben seinem Chemnitzer Chefposten, in den 1880er Jahren die Gräflich Einsiedelschen Werke in Lauchhammer und machte sie zu einem der damals bedeutendsten Hüttenwerke Mitteldeutschlands. Er war Direktor und Mitglied des Aufsichtsrats der Dresdner Bank. Als Testamentsvollstrecker von Alfred Krupp (1854-1902), mit dem er familiär verbunden war, wandelte er nach dessen Tod das Krupp-Imperium in eine Aktiengesellschaft um.
Doch eine seiner bedeutendsten Leistungen war wohl die Gründung und der Aufbau der Russischen Maschinenbaugesellschaft „Hartmann" (RMGH) in Lugansk, im damaligen südrussischen Gouvernement Jekaterinoslaw. In einer Denkschrift beschrieb Gustav Hartmann 1905 seine ersten Kontakte nach Russland: „Seit dem Jahre 1865 besuchte ich jährlich ein- bis zweimal auf längere Zeit im Interesse des Geschäfts meines Vaters, … welches regelmäßig größere Lieferungen in Lokomotiven, Dampf-, Werkzeug- und Spinnereimaschinen nach Russland auszuführen hatte, das Zarenreich, um die angenehmen Beziehungen des väterlichen Werkes zu den russischen Behörden und der dortigen Privatindustrie zu pflegen. Durch diese regelmäßigen, längeren Besuche lernte ich den Markt und die Bedürfnisse des russischen Reiches genau kennen.“
Ab den 1880er Jahren gingen jedoch die Chemnitzer Exporte nach Russland beständig zurück. Russland versuchte seine Industrie durch Zölle zu schützen und war bestrebt, weniger Waren als vielmehr ausländisches Kapital nach Russland zu holen. Anfang der 1890er Jahre hatten bereits französische und belgische Industrielle metallurgische Werke in verschiedenen Teilen Russlands errichtet, die sich, wie Hartmann schnell erkannte, sehr gut entwickelten. Hintergrund dieser Industrialisierung war u. a. die russische Fernost-Expansion. 1891 begann der Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Mit dieser Anbindung sollte Sibirien und gleichzeitig im Fernen Osten Asien erschlossen werden. Der Russlandkenner Gustav Hartmann witterte hier das große Geschäft. „Da mir durch meine langjährige Bereisung Russlands bekannt war, dass infolge der immer weiteren Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes die vorhandenen, teils veralteten russischen Maschinen- und Lokomotivfabriken nicht mehr in der Lage waren, dem ganz wesentlich gesteigerten Bedarfe an Lokomotiven zu genügen … so befasste ich mich mit einigen Freunden eingehend mit der Prüfung dieser Frage.“ Mit seinen ausgezeichneten Kontakten zum damaligen russischen Verkehrsminister Fürst Mikhail Ivanovich Khilkov (1834-1909) und zum russischen Finanzminister Sergei Juljewitsch Witte (1849-1915) reichte Hartmann im Frühjahr 1895 den beiden Ministern ein Gesuch ein, „dass ich mich erböte, im russischen Reiche zunächst eine Fabrik zur Herstellung von Lokomotiv-Kesselblechen, kupfernen Feuerbuchsen, Siederöhren und Lokomotivkesseln zu errichten.“ „Zunächst“ deshalb, weil Hartmann gleichzeitig um die Risiken wusste. So machte er sein Angebot davon abhängig, dass die russische Regierung im Gegenzug „dies durch Bewilligung eines mehrjährigen Lieferungskontraktes für derartige Produkte ermögliche“.
Dann verbrachte Hartmann fünf Monate in St. Petersburg, um den Mitgliedern der eigens dafür gebildeten Regierungskommission persönlich und unverzüglich Rede und Antwort stehen zu können. Im November 1895 hatte er dann den Auftrag so gut wie in der Tasche. Er umfasste einem Umfang von rund 32 Millionen Mark (1 Mark vom 1900 entspräche heute ca. 6,70 Euro, also knapp 215 Mio Euro). Dafür sollten von 1898 bis 1903 insgesamt 280 Lokomotivkessel, 1.070 kupferne Feuerbuchsen, 135.000 Siederöhren sowie 78.000 Pud Kesselbleche geliefert werden. Die Zustimmung des Reichsrates, damals die höchste gesetzesberatende Körperschaft im Zarenreich, schien eine Formalie zu sein, scheiterte aber dort. Erst nachdem die eingereichten RMGH-Statuten am 3. Mai 1896 die kaiserliche Bestätigung erfuhren, was übrigens später als offizielles Gründungsdatum galt, und nach dem der Verkehrsminister sich noch einmal persönlich für den Kontrakt eingesetzt hatte, billigte der Reichsrat am 17. Mai 1896 den Vertrag mit Hartmann. Darauf erteilte Zar Nikolaus II. am 23. Mai 1896 seine „allerhöchste Kaiserliche Bestätigung“ für die Errichtung der Russischen Maschinenbaugesellschaft „Hartmann". Damit war der Weg frei, um am Fluss Luganka, wo damals „bei dürftigem Steppengras das Vieh weidete“, eine zweite Hartmann-Fabrik zu gründen.
Das damals 20.000 Einwohner zählende Lugansk war nicht die erste Wahl. Doch die 2.300 km von Chemnitz entfernte Stadt erwies sich trotzdem als vorzüglicher Standort. Der Fluss führte immer Wasser, eine Eisenbahnanbindung war vorhanden, Bauland sowie Kohle und Eisen standen im Donbass ausreichend zur Verfügung. Weiterhin konnte man hier gutes Fachpersonal rekrutieren, denn 1795 hatte Katharina II. bereits hier die Errichtung einer Kanonen-Fabrik genehmigt.
Das Startkapital von vier Mio. Goldrubel organisierte Hartmann je zur Hälfte über zwei Finanzgruppen. Als Vertreterin des deutschen Kapitals fungierte die Dresdner Bank und als Repräsentantin des russischen Kapitals die Internationale Handelsbank in St. Petersburg. Gustav Hartmann sicherte sich über die Sächsische Maschinenfabrik vorm. Rich. Hartmann AG ein größeres Aktienpaket und damit den dauerhaften Einfluss auf das Unternehmen. Mit der Gründung erhielt das Lugansker Werk damit nicht nur den auf dem Weltmarkt eingeführten Namen „Hartmann“, sondern Gustav Hartmann wurde bei der Gründung zum Präsidenten des Unternehmens berufen. Auch behielt sich Hartmann die Vergabe aller Bauaufträge vor.
Für 170.000 Rubel erwarb die Russische Maschinenbaugesellschaft „Hartmann" 600.000 qm Bauland für das Werk sowie ein zweites Grundstück für die Errichtung von Wohnungen. Auf dem Beamten-Grundstück befand sich schon eine herrschaftliche Villa. Dorthin zog im September 1896 der Brite J. I. Anderson ein, der als Direktor die Bauarbeiten leitete. Hartmann konnte sich auf ihn, wie Dr. Jochen Haeusler in seinem Lugansk-Essay im Buch „Mythos Hartmann“ feststellte, voll verlassen. Anderson hatte in Russland schon große Erfahrungen gesammelt. So war er als Manager und Anteilseigner bei der erfolgreichen Sanierung eines des ältesten russischen metallurgischen Werkes in Vyksa, ca. 200 km südwestlich von Nischni Nowgorod, beteiligt.
Hartmanns Plan sah vor, zuerst eine Gießerei zu errichten, um für die erforderlichen Bauten die Gussteile vor Ort herzustellen. Dann war die Errichtung eines Martinwerkes zur Stahlerzeugung vorgesehen. Dem folgte ein Walzwerk zur Verarbeitung des Stahls in Bleche. Die vierte Ausbaustufe war ein Röhrenwalzwerk zur Herstellung der Siederohre für die Lokomotivkessel sowie schließlich als 5. Ausbaustufe eine Kesselschmiede, mit einer jährlichen Kapazität von 250 Lok- und Dampfkesseln. So wurde es auch gemacht. Steine und Kalk für die Ausbauten der Werkhallen wurden durch Bauern mit täglich bis zu 1000 Wagenlieferungen aus der Umgebung herangeholt.
Die Pläne und Einrichtungen für Gießerei, Martinwerk und Walzwerk, das unbearbeitete Eisenmaterial sowie die Ingenieurs- und Montagekapazitäten kamen aus Lauchhammer. Die Lieferung der Dampf- und Werkzeugmaschinen, der bis 25 Tonnen hebenden Kräne im Walzwerk sowie der übrigen Maschinen übernahm die Sächsische Maschinenfabrik vorm. Rich. Hartmann AG. Die Gasgeneratoren und die Martinöfen für das Stahlwerk, ebenso wie die Wärmeöfen für das Walzwerk wurden nach den Plänen von Lauchhammer durch das Lugansker Werk selbst ausgeführt.
Für uns heute kaum vorstellbar, nach 20 Monaten Bauzeit erfolgte tatsächlich am 24. Mai 1898 die feierliche Einweihung der Russischen Maschinenbaugesellschaft „Hartmann“ und ab diesem Zeitpunkt die Lieferung der vereinbarten Erzeugnisse.
Jetzt stand für den 56jährigen Hartmann die nächste Herausforderung, die Errichtung einer Lokomotivfabrik. Ihr Bau wurde am 24. August 1898 begonnen und ebenso von Anderson geleitet. Auch für diese neue Fabrik, welche in einer einzigen 17.500 qm großen vierschiffigen Halle untergebracht war, kam der größte Teil der Ausrüstungen aus Chemnitz. Wie bereits vorher wurde wieder mit der russischen Regierung ein Auftrag zur Lieferung von 240 Lokomotiven für 16 Mio. Mark (ca. 107 Mio. Euro) geschlossen. Am 28. Mai 1900, einen Monat früher als geplant, konnte die erste Lokomotive mit einer Leistung von 560 PS an die russischen Staatsbahnen ausgeliefert werden.
Die Fabrik war hervorragend strukturiert und bis 1904 waren bereits 642 Lokomotiven hergestellt. Allein im Jahre 1905 waren es 245. Das Hartmann-Werk produzierte damals mehr als 10% aller russischen Dampflokomotiven. Zusätzlich zu den Loks wurden Maschinen, Eisenrohre, Kessel und vieles mehr hergestellt.
Der Immobilienwert der Fabrik belief sich 1905 auf über rund 20 Mio. Mark (134 Mio. Euro). Der Jahresumsatz betrug zwischen 1900 und 1905 durchschnittlich die Höhe des Aktienkapitals von 20 Mio. Mark.
Wenn man 1898 in der Fabrik ungefähr 1.500 Arbeiter beschäftigte, stieg die Zahl bis 1905 auf 4.000. Weiterhin wurde neben der Beamten- auch eine Werkssiedlung errichtet. Die Arbeiter waren nicht nur krankenversichert, die Fabrik hatte ebenfalls ein eigenes Krankenhaus. Ebenfalls die Stadt profitierte erheblich vom Werk und dessen Steuerabgaben. Straßen wurden ausgebaut und neue städtische Einrichtungen wie Schulen und eine Bibliothek geschaffen. Kaufleute und Banken zog es in die Stadt, die Einwohnerzahl verdoppelte sich binnen zehn Jahren.
Doch so erfolgreich ging es vorerst nicht weiter. Die Russische Revolution 1905-1907 hinterließ ihre Spuren, die Aufträge gingen zurück, der Aktienkurs fiel, die Fabrik arbeitete mit Verlust. Hartmann als Präsident konnte sich im Vorstand nicht mehr mit seinen Personalien und Vorstellungen durchsetzen, so dass er 1908, inzwischen 66 Jahre alt, seinen Vorsitz im Präsidium der Aktiengesellschaft abgab.
Inzwischen verstorben konnte Gustav Hartmann den neu beginnenden Aufstieg nach 1910 im Werk nicht mehr erleben. 1916 waren über 5.000 Arbeiter beschäftigt, fast so viele wie damals in der Chemnitzer Fabrik. Mit der Errichtung der Sowjetmacht verlor das Unternehmen den Namen des „Kapitalisten“ Hartmann und in bekannter stalinistischer Manier wenig später ebenfalls die Stadt Lugansk ihren Namen. Von 1935 bis 1958 und noch einmal von 1970 bis 1992 hieß Lugansk – wir Chemnitzer kennen es aus Karl-Marx-Städter Zeiten – Woroschilovgrad. Sie wurde nach dem Vertrauten Stalins und Marschall der Sowjetunion K. E. Woroschilov (1881-1969) benannt, der 1903 im Hartmann-Werk gearbeitet hatte.
Wenn bis Mitte der 1950er Jahre ca. 12.000 Dampfloks hergestellt wurden, traf die Moskauer Führung die strategische Entscheidung nun im Werk vor allem Güter-Dieselloks zu produzieren. Sie waren hauptsächlich für die sowjetischen Eisenbahnen gedacht. Aber man exportierte sie auch in die Länder des Warschauer Pakts sowie Ägypten, Syrien, Indien, Nordkorea, die Mongolei und Kuba. Seitdem verließen bis zum Ende der Sowjetunion im Werk über 44.000 Loks die Produktionshallen.
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991/92 gab es in der fast 500.000 Einwohner zählenden Metropole sogar das Vorhaben für den Fabrikgründer Gustav Hartmann ein Denkmal zu errichten. Aber für das nun ukrainische Werk, die Lugansker Lokomotivwerke „Luganskteplovoz“ sah es nicht gut aus. Die bisherigen Hauptabnehmer waren nun Ausland. Bis 2012 konnten gerade noch knapp 2000 Loks verkauft werden. Um 2010 übernahm die Transmasch-Holding, größter russische Hersteller von Eisenbahnfahrzeugen, die Aktienmehrheit in Lugansk und es schien sich Besserung einzustellen. Als sich jedoch nach dem Euromaidan im Frühjahr 2014 die selbsterklärte sogenannte „Volksrepublik Lugansk“ gründete, verlief bereits wenige Monate später die Frontlinie zwischen den Separatisten und dem ukrainischen Staat über das Werksgelände. Die Fabrik wurde umkämpft, beschossen und zerstört. Ein Teil der noch verfügbaren Fabrikanlagen ging in russische Werke der Transmasch-Holding, ein anderer Teil wurde in das von der Ukraine kontrollierte Staatsgebiet umgelagert.
Bleibt der großen Lokomotivstadt Lugansk zu wünschen, dass in der Region wieder Frieden einzieht und der traditionsreiche Industriestandort, der so eng mit Chemnitz verbunden ist, erneut erblühen kann.
Buchtipp:
Mythos Hartmann. Zum 200. Geburtstag des Sächsischen Lokomotivenkönigs Richard Hartmann. Verlag Heimatland Sachsen, 2009.