Die Reichsgründung und Sachsen
von Dr. Hendrik Thoß
Als am 1. März 1871 die deutschen Truppen in Paris einzogen, um symbolisch den Sieg über Frankreich zu begehen und dabei an der Pferderennbahn Longchamp am Bois du Boulonge vor Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) paradierten, wurden sie vom sächsischen Kronprinzen Albert (1828-1902) angeführt. Diese ganz besondere Ehre war dem ältesten Sohn König Johanns von Sachsen (1801-1873) insbesondere aufgrund seiner beachtenswerten militärischen Führungsfähigkeiten zuteil geworden, die ihn etwa in den Augen des Chefs des Generalstabs, Generalfeldmarschall Helmuth von Moltkes (1800-1891), zu einem der kompetentesten deutschen Kommandeure im Krieg gegen Frankreich machte. Neben dem Kronprinzen und seinem jüngeren Bruder Georg (1832-1904), der gleichfalls als Kommandeur an den Kampfhandlungen gegen die französischen Armeen beteiligt war, trugen der sächsische Außenminister Richard Freiherr von Friesen (1808-1884) und der sächsische Kriegsminister Alfred von Fabrice (1818-1891) erheblich zur Gründung des deutschen Kaiserreichs bzw. zum Sieg über Frankreich bei.
Bis heute wird in der öffentlichen Wahrnehmung häufig der 18. Januar 1871 mit der Entstehung des Deutschen Reichs in Verbindung gebracht. Diese Sicht verbindet sich mit dem wirkungsmächtigen Gemälde Anton von Werners (1843-1915) „Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches“, das zwischen 1877 und 1885 in drei Fassungen entstanden war, und das jenen Moment in Szene setzte, in dem der Großherzog Friedrich I. von Baden (1826-1907) das Hoch auf den neuen Kaiser ausrief. Gleichwohl stellte diese Proklamation aus staatsrechtlicher Perspektive keinen verfassungsgestaltenden Akt dar, vielmehr war sie eine Art Investitur, ein zugegeben moderner und den äußeren Umständen entsprechender Akt einer „förmlichen Amtseinweisung und Amtsergreifung“, wie es der renommierte Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber formulierte. Der 18. Januar war der preußische Krönungstag des Jahres 1701, als sich der Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (1657-1713) in Königsberg selbst zum König in Preußen krönte und hinfort als König Friedrich I. firmierte.
Der Tag des Amtserwerbs Wilhelms I. war hingegen der 1. Januar 1871. Die Verfassung des Deutschen Reichs trat am 4. Mai 1871 in Kraft und bildete die verfassungsrechtliche Klammer zwischen den im Norddeutschen Bund zusammengefassten deutschen Staaten und den süddeutschen Staaten Baden, Bayern, Hessen und Württemberg. Von der sächsischen Landesgeschichtsschreibung ist der Integrationsprozess bzw. der mit der Machtverschiebung nach Berlin verbundene Verlust an Eigenständigkeit, etwa hinsichtlich einer eigenen sächsischen Außenpolitik, immer wieder beklagt worden, zumal sich kaum sächsische Diplomaten bereitfanden, der nun größer gewordenen preußischen Diplomatie zu dienen, die lieber nach Wien emigrierten und in österreichische Dienste wechselten. Dieser Verlust galt jedoch für alle deutschen Staaten gleichermaßen.
Andererseits behielten, wie Christopher Clark betont, die Glieder des in dem neuen Staatswesen zusammengefassten „Fürstenbundes“ … „ihre eigenen parlamentarischen Legislativen und Verfassungen“. Allein ihnen stand die Erhebung direkter Steuern zu, nicht dem Reich. Daneben blieben all jene Fragen von Rechtsetzung und Politik unberührt, die nicht explizit in der Reichsverfassung ausgewiesen waren. Überdies waren auch in Preußen Rufe laut geworden, die vor einem Aufgehen des Landes in Deutschland warnten und die einer Zusammenarbeit mit den Bayern, Schwaben oder Sachsen skeptisch gegenüberstanden.
Gleichwohl hatte die Reichsgründung mit ihren verfassungsrechtlichen und wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischen Weichenstellungen durchaus das Potenzial, auch Sachsen zum Vorteil zu gereichen. In der Folge entwickelte sich das Land der Wettiner neben dem zu Preußen gehörigen Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet zu der am stärksten industrialisierten Region Deutschlands mit dem „dichtesten Städte-, Eisenbahn- und Straßennetz im Reich“. Sachsen, dessen Einwohnerzahl sich zwischen 1871 und 1914 nahezu verdoppelte, wurde das „Musterbild eines aufstrebenden Industriestaates“ (Frank-Lothar Kroll) mit einer sich immer stärker formierenden, gewerkschaftlich und parteipolitisch (SPD) gebundenen Arbeiterbewegung. Die mehrheitlich positive Entwicklung, die sich nach 1871 in Sachsen wie in Deutschland vollzogen hatte, wurde schließlich 1914 durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges beendet, dessen Ende auch das der Monarchien in Deutschland und die Gründung des ersten demokratischen Staatswesens auf deutschem Boden nach sich ziehen sollte.